Vor einem Jahr entstand das Foto vor dem Hotel in Polen. Insgesamt hatten wir an diesem Tag 37 geflüchtete Menschen aus den Lagern an der polnisch-ukrainischen Grenze mit auf die Reise nach Deutschland genommen. Nicht alle sind auf dem denkwürdigen Foto zu sehen, aber viele von ihnen. Und zu den meisten haben wir regelmäßigen Kontakt. Wie geht es den Familien heute?
“Eines Tages”, sagte Jürgen in seiner spontanen Rede an die Flüchtlingsfamilien vor dem Hotel, “und dafür bete ich zu Gott, werden wir uns alle wiedersehen in einem wunderbaren, wiederaufgebauten Land.” Eine gute Reise wünschte er allen damals. Wo auch immer sie hingehen möge.
Niemand von uns hätte an diesem Tag geahnt, wie sich alles entwickeln würde!
Heute haben sich viele unserer Familien eine kleine Existenz in Deutschland aufgebaut. Manche haben eigene Wohnungen, manche leben immer noch in Sammelunterkünften. Und manche leben bei uns, in unseren Familien. So kommt es, dass wir zu vielen regelmäßigen Kontakt haben.
Wir erleben ihre Bemühungen, sich in Deutschland zurechtzufinden, erleben welchen Herausforderungen sie sich täglich stellen und wir versuchen – nach wie vor – zu helfen. Wir erfahren, wie es zuhause in der Heimat aussieht und was sie in ihrem Innersten bewegt.
Ihre Erinnerungen und Gedanken haben wir gesammelt.
“Kannst du dich an das erste Treffen mit uns erinnern?”
Olga (37) mit ihren Töchtern Varvara (10) und Stefania (5)
“Es ist genau ein Jahr her, dass wir an der polnisch-ukrainischen Grenze ankamen. Ich war berührt von den vielen Hilfsangeboten für uns Flüchtlinge. Man muss sich vorstellen, dass wir damals von einem Moment auf den anderen die Kinder nehmen mussten, einen Koffer gepackt haben mit den notwendigen Dingen und ins Ungewisse gegangen sind. Eltern, Mann, Hund, Herzensdinge, Kinderspielzeug, das sie so sehr vermissen, Freunde, Arbeit …. unser ganzes Leben ließen wir zurück … Als ich mich von meinem Mann und meinen Eltern verabschiedete, wusste ich es nicht, wann ich sie das nächste Mal umarmen würde. Und wie sehr uns dieser Krieg trennen würde. Und ob wir uns überhaupt wiedersehen. … Als wir dann in Polen ankamen, kam ein Mann auf uns zu, schenkte den Kindern Süßigkeiten und Spielsachen, fragte nach unseren Zukunftsplänen und bot seine Hilfe an. Es war Knuth. Wenig später stellte er uns seine Frau Stefanie vor. Sie haben uns geholfen und uns mit nach Deutschland genommen.”
Tetiana (65) floh mit ihren Enkeln Yana (11) und Alex (17)
“Das war der 12. März 2022 in Polen. Die Baptistengemeinde in Chelm. Wir waren schon seit vier Tagen unterwegs, nachdem Kiew angegriffen wurde und ein Haus in unserer Straße zerstört wurde. Wir hatten Angst vor dem Unbekannten. Wir hatten damals noch nicht realisiert, dass etwas Unwiederbringliches, etwas Entgültiges passiert ist. Das Treffen mit Euch brachte damals einen Hoffnungsschimmer, Wärme und Freude in unsere Seelen. Wir reisten mit nach Deutschland. … Wir haben Euch damals in Polen unser Leben anvertraut. Dafür schenken wir Euch unsere immerwährend liebenden Herzen. Ihr seid einfach das Beste, was uns in dieser Zeit passieren konnte!”
Olena (35) und Viacheslav (34), aus Sarnu, und ihre 4 Kinder reisten mit uns.
“Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine mussten wir fliehen, um für die Sicherheit unserer Kinder zu sorgen. Wir hatten eigentlich daran gedacht, im Nachbarland Polen zu bleiben. Am Grenzübergang waren wir unglaublich froh über die Hilfe, die wir von den vielen freiwilligen Menschen bekamen. Wir haben warmes Essen bekommen und Hygieneartikel. Und für die Kinder bekamen wir einen Kinderwagen und einen Autositz. Das hatten wir ja alles nicht mitnehmen können … Ich kann mich erinnern, dass es dunkel wurde und wir nicht wussten, wo wir die Nacht verbringen können. In einer Kirchengemeinde war kein Platz mehr für uns, weil zur gleichen Zeit ein ganzer Bus mit geflüchteten Menschen ankam. Wir kamen mit einem Mann ins Gespräch – es war Jürgen – und wir schlossen uns seiner Gruppe an. Wir verbrachten eine Nacht in dem Hotel in Polen und beschlossen dann, mit ihm und der ganzen Menschenfreude-Gruppe am nächsten Morgen nach Deutschland zu reisen.”
“Wie ist dein Leben heute?”
Tetiana, aus Kiew, lebt heute mit ihren Enkeln im Münsterland
“Wir haben ein warmes, gemütliches Zuhause bei unserer Gast-Familie gefunden, wo wir auch heute noch leben. Wir erhielten Hilfe, Fürsorge und Liebe, worüber wir für immer dankbar sein werden. Aber natürlich fragen wir uns ständig: Wie sieht die Zukunft aus? Was passiert als nächstes? Was kommt noch alles auf uns zu? Wie sollen wir diese Zeit überleben? Wir machen uns Sorgen um etwas, das wir nicht überblicken und nicht beeinflussen können.”
Der Vater der vier Kinder durfte ausreisen, um die Familie zu unterstützen
“Wir bekamen eine Unterkunft in ehemaligen Büroräumen der Firma Siegfried Pohl Verpackungen, die zu Wohnungen umgebaut wurden. Alles war sehr schön und gemütlich eingerichtet mit allem, was wir brauchten. Wir konnten uns zuhause fühlen. Die Menschen aus Jürgens Umfeld, die das alles für uns organisiert hatten, vor allem Bettina Lamp, halfen uns auch mit den Dokumenten. Mittlerweile gehe ich auch arbeiten, die Kinder gehen in die Schule und in den Kindergarten. Soweit geht es uns gut. Aber dennoch hoffen wir auf einen schnellen Sieg und darauf, dass wir nach Hause zurückkehren können.”
Olga, aus Dnipro, lebt heute mit ihren Töchtern in Bad Oeynhausen
“Das Jahr war sehr schwierig. Ein neues Land, neue Herausforderungen, eine neue Sprache, die man nicht beherrscht. Der Krieg im Heimatland und immer diese Sorge um die Verwandten und Freunde, die dort geblieben sind. In Deutschland sind die Menschen aber sehr freundlich und entgegenkommend. Sie helfen uns bei allen Fragen. Die Kinder gehen in die Schule und in den Kindergarten und es ist einfach das Wichtigste, dass sie in Sicherheit sind… Meine Lieben zuhause haben in der ganzen Zeit gelernt, in einer neuen Realität zurechtzukommen. Sie arbeiten, ziehen die Kinder groß, versuchen, ihnen das Beste zu bieten – unter dem Heulen von Sirenen, dem Einschlag von Raketen und fehlendem Licht.”
Was wünschst du dir für die Zukunft?
Ein neuer Alltag mit neuen Freunden – auch tierischen, wie dem Familienhund (siehe Bild).
“Die Zeit verging sehr schnell. Wir haben hier in Deutschland etwas gefunden, woran wir uns immer mit Wärme, Freude und einem Lächeln erinnern können – trotz aller Sorgen, die wir haben! Yana geht in die Gesamtschule, Alex auf das Berufskolleg. Die beiden haben Freunde und neue Hobbies gefunden. Dazu zählt auch der Hund unserer Gast-Familie.
Zuhause, in der Ukraine, ist das Leben geprägt von Schmerz, Blut und endlosem Warten. Es ist immer noch Krieg! Aber wir glauben fest daran, dass das Licht die Dunkelheit besiegen wird. Wir beten! Gott ist mit uns!”
Olga, Varvara und Stefanie halten zusammen und hoffen auf Frieden.
“In Gedanken sind wir natürlich immer bei unserer Familie. Was uns etwas tröstet: Es gibt Menschen – vertraute und unbekannte – denen das Unglück anderer nicht gleichgültig ist: An einem Tag wurde das Haus meiner Eltern schwer beschädigt durch den Einschlag einer Rakete. Diese Menschen halfen, das Haus wieder aufzubauen. Das ist ein kleiner Lichtblick.
Ich wünsche mir einfach nur FRIEDEN!!! Ich wünsche meinen und allen anderen Kindern eine Kindheit in ihrer Heimat! Jedes Kind soll eine Mutter und einen Vater haben und niemand soll seine Lieben begraben müssen.”
Wir danken Euch für Eure Gedanken und Euer Vertrauen!